Weimar den 12 ten July –97.

Gastfreundliche Frau Hofräthin!

Es sind fast acht Tage, daß ich Jena verließ, und noch Der erste Aufenthalt Hirts in Weimar dauerte vom 28. Juni bis 1. Juli und vom 5. bis 12. Juli 1797 (mit einer zwischenzeitlichen Reise nach Jena) und ist u.a. dokumentiert in Goethes Tagebüchern: 28. Juni: "Früh. Hofrath Hirt." - 29. Juni: "Abend Hirt nebst G. R. Voigt. Böttcher, Bertuch Osann zu Tische." - 30. Juni: "Unterredung mit Hirt über seine Architecktonische Arbeiten. Mit ihm im römischen Hause." - 1. Juli: "Früh mit Hirt im Schlosse. / Nachmittag in Osmanstäd." - 5. Juli: "Kam Hirt zurück von Jena. / Laokoon." - 6. Juli: "Früh Hirt. Uber Kunsttheorie. / Abends Gesellschaft." - 12. Juli: "Schiller, Hirt, Botticher zu Mittage / Abends mehr Gesellschaft." (Goethe Tagebücher, Bd. II (1790-1800). Hrsg. von Edith Zehm. Stuttgart, Weimar 2000, Bd. II,1, S. 119-120; Bd. II,2, S. 547-549). - Laut Karl August Böttiger blieb Hirt mehr als "14 Tage" in Weimar und wurde von Goethe, den er Ende 1786 in Rom kennengelernt und dem er als Cicerone gedient hatte, "sehr freundlich bewirthet" (An Karl Ludwig von Knebel, 22. Juli 1797, in: Goethe, Begegnungen und Gespräche, Bd. 4, 1980, S. 328). Am 2. Juli reiste er nach Jena und lernte dort u.a. Schiller kennen, der nochmals bei einer Gesellschaft bei Goethe mit Hirt zusammentraf. Goethe nahm Hirts kunsttheoretische Ansichten distanziert-kritisch auf. An Schiller schreibt er am 1. Juli 1797: "Hofrath Hirt ist hier, er ist mir auf manche Weise eine fremde Erscheinung. […] bey eigentlich ästhetischen Urtheilen steht er noch auf dem Puncte wo wir ihn ehemals verließen" (Schillers Werke. NA, Bd. 37 I, S. 55; Goethe WA Abt. IV, Bd. 12, S. 178). Und am 14. Juli 1797 urteilt er gegenüber Johann Heinrich Meyer: "Hofrath Hirt ist hier, der in Berlin eine Existenz ganz nach seinen Wünschen hat, und sich auch bey uns ganz behaglich befindet, bis auf den Punct wenn wir seine Verstandsdeductionen nicht als das ultimum, bey Hervorbringung und Beurtheilung der Kunstwerke, wollen gelten lassen. Schiller ist seit einigen Tagen auch hier und steht, bey seinem höchst beweglichen und zarten Idealism, freylich am weitesten von diesem Dogmatiker ab. Es ist gut daß dieses Zusammenbleiben nicht lange dauert, denn sonst würde die Kluft die uns trennt immer sichtbarer werden. Indessen hat seine Gegenwart uns sehr angenehm unterhalten, indem er bey der großen Masse von Erfahrung, die ihm zu Gebote steht, beynah alles in Anregung bringt was in der Kunst interessant ist und dadurch einen Zirkel von Freunden derselben, selbst durch Beschränktheit und Widerspruch, belebt. Er communicirte uns einen kleinen Aufsatz über Laokoon, den Sie vielleicht schon früher kennen und der das Verdienst hat, daß er den Kunstwerken auch das charakteristische und leidenschaftliche als Stoff zuschreibt, welches durch den Mißverstand des Begriffs von Schönheit und göttlicher Ruhe allzusehr verdrängt worden war. Schillern hatte von dieser Seite gedachter Aufsatz besonders gefallen, indem er selbst jetzt über Tragödie denkt und arbeitet, wo eben diese Puncte zur Sprache kommen. Um mich nun eben hierüber am freyesten und vollständigsten zu erklären und zu weiteren Gesprächen Gelegenheit zu geben, so wie auch besonders in Rücksicht unserer nächsten gemeinschaftlichen Arbeiten, schrieb ich die Blätter [über Laokoon] die ich Ihnen nun zur Prüfung überschicke" (Goethe WA, Abt. IV, Bd. 12, S. 189-190). Demgegenüber fand Schiller Hirts Thesen durchaus interessant; an Goethe schreibt er am 4. Juli: "Hirt hat mich in diesen drei Tagen recht interessant beschäftigt und mir manches zurückgelassen, worüber ich noch lange zu denken haben werde. Seine Urteile, wenn sie auch etwas befangen sind, ruhen auf einer vielfältigen und fortgesetzten Anschauung, und sprechen in wenig Worten fruchtbare Resultate einer lebendigen Beobachtung und eines gründlichen Studiums aus. Mir deucht, daß er in der Hauptsache mit Ihnen und Meiern ziemlich einig ist, wenigstens kann man lange mit ihm über das tiefste und innerste sprechen, ohne auf eine Dissonanz zu stoßen oder sich unverständlich zu sein. Ich hätte gewünscht, der dritte Mann zu sein, wenn Sie Sich mit ihm über diese Gegenstände unterhalten, weil ich ein Gespräch über bildende Kunst aus eigenem Mittel nicht lange unterhalten, wohl aber mit Nutzen zuhören kann. / Gegen MichelAnge ist er sehr eingenommen, und mir däucht, daß er ihn viel zu tief herab setzt, wenn er ihm bloß einen Zeitwerth zugesteht. Indeßen habe ich auch bei dem harten Urtheil über Michel Ange sein Raisonnement sehr verständig gefunden, und zweifle bloß an der richtigen Angabe des Factums worauf er es gründet. / Uebrigens weiß ich noch nicht recht, was ich von Hirten eigentlich denken soll und ob er bei einer längern Bekanntschaft die Probe halten würde. Vielleicht ist ihm manches nicht eigen, wodurch er jetzt in der That imponiert, wenigstens scheint mir die Wärme und Lebhaftigkeit, mit der er manches darzustellen wußte, nicht so eigentlich in seiner Natur zu liegen. / Lassen Sie Sich doch von ihm etwas vom Mahler Müller erzählen, wenn es noch nicht geschehen ist. Es ist kurzweilig genug, wie der Aufsatz in den Horen gegen Fernow entstanden ist" (Schiller NA, Bd. 29, Weimar 1977, Nr. 100, S. 95). - Hirt traf ebenso Herder, mit dem er in Rom bekannt geworden war, Bertuch sowie Wieland in Oßmannstedt, die er wenig später alle über Böttiger grüßen lässt. Herder schreibt an Knebel am 5. August 1797: "Auch Hirt, ehemals in Rom, jetzt in Berlin, ist 8 Tage hier gewesen. Denken Sie! Er hat 1800 Thaler fast ohne was zu thun zu haben: denn seine Vorlesungen bei den Akademieen sind ein Spielwerk. Er ist sehr vergnügt, u. umgänglich. Für solche Leute ist die Welt geschaffen. Mir hat er viel angenehme Reminiscenzen gegeben" (Herder-Briefe, Bd. 7, Nr. 347, S. 333). - Anna Amalia und der Herzog, der ihn zum sachsen-weimarischen Hofrat ernannt hatte, waren zu dieser Zeit nicht anwesend; Anna Amalia war für mehrere Wochen ins Bad nach Kissingen gereist.
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wandelt mein Körper auf weimarischem Boden
. Gern wäre ich noch einmal in das bezaubernde Salathal hinübergehüpft; gerne hätte ich noch einen schönen Tag, und freundlichen Abend mit Ihnen zugebracht - aber wo man sich die Wirklichkeit versagen muß, nehme die Erinnerung an die so schön verfloßenen Stunden die Stelle ein: und die Hoffnung bleibe, daß was heute nicht möglich ist, die Zukunft zur Wirklichkeit bringe. Nie wehte mich die Hospitalität freundlicher an, als in Ihrem Hause: nie empfieng ich so gern, weil ich fühlte, daß es herzlich gegeben ward. | 2

Schön wäre es, wenn Sie mit Schüzen kommenden Herbst nach Berlin kämen: gewiß! Freundin, suchen Sie es möglich zu machen. Ich kann Ihnen zwar da das, was Sie mir thaten, nicht vergelten; ich könnte Ihnen nur meinen freundlichen Willen zeigen: doch sollten Sie nicht wieder ohne angenehme Erinnerungen davon abreisen. Noch schöner wäre es gewesen, wenn Sie sogleich die Tour mit mir über Dresden und Dessau dahin gemacht hätten; Schütz würde Ihnen dann gewiß geschwinde gefolgt seyn.

Freytag denke ich meine Rückreise anzutretten, und die übrige Zeit meines Urlaubes Die Rückreise ging über Dresden. Böttiger berichtet am 5. Oktober 1797 an Christian Gottlob Heyne: "Der Hofrath Hirt, den sein Glückstern noch zur rechten Zeit aus Rom nach Berlin leitete, besuchte uns hier, und bewog mich, ihn über Dresden nach Potsdam und Berlin zu begleiten. Ich habe an seiner Seite die brandenburgischen, in hundert Winkeln königlicher Palläste zerstückelten Kunstwerke, Kunstschätze gesehn und weit mehr gefunden, als ich erwartet hatte" (Briefwechsel Böttiger-Heyne, 2015, Nr. 46, S. 51-52).
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theils in Leipzig
theils Hirt kam wohl am 18. Juli 1797 nach Dessau und hielt sich als Gast des Fürsten teils im Dessauer Schloss, teils in Wörlitz und in Luisium, dem Landsitz der Fürstin, auf. Er besichtigte das Wörlitzer Gartenreich und unternahm mit der Fürstin Ausflüge u.a. nach Oranienbaum. Am 2. August kam auch Karl August Böttiger in Dessau an. Am 5. August reiste Hirt mit ihm nach Potsdam ab. - Sein Aufenthalt in Dessau-Wörlitz war das erste Wiedersehen mit Louise von Anhalt-Dessau nach deren Aufenthalt in Rom und der gemeinsamen Rückreise. Die Fürstin hatte das Treffen mit ihrem geliebten Cicerone sehnsüchtig erwartet und durchlebte ein Wechselbad der Gefühle. Ihre Tagebucheintragungen geben ihre Hoffnungen wie auch ihre Enttäuschungen wider: 19. Juli: "[…] UND ICH SAHE IHN WIEDER: ABER GOTT UNBESCHREIBLICH WAR MIR DES WIEDERSEHENS EINDRUK. ES WAR FREUDE WOHL ABER MEHR WEHMUTH ALS FROHEIT - SEINE REDEN SEINE BLIKE WARENS NOCH ABER ÄLTER FAND ICH IHN GEWORDEN; das Haar war vergangen von der Stirn UND ALS ER MIR FOLGENDS SAGTE, DIE RITZ SEI SEINE FREUNDINN UND ER IHR FREUND, DA ERWIDERTE ICH MANCHES wie das doch unmöglich sey, daß beyde in ein Herz wohnen könten. ER SAGTE ZWAR AUF VERSCHIEDENE WEISE und dann wurde Verschiedenes geredet. ER BLIEB HERZLICH UND ICH LIEBE ZUSEHR, UM WANN SEINE GEGENWART MICH BEZAUBERT ABBRECHEN ZU KÖNNEN." - 21. Juli: "[…] O GOTT WIE VERLASSEN BIN ICH. Um 8 uhr kam er - mein Druck, die Entbehrung, meine Lage, das alles UND DAS VERLANGEN MIT IHM ZU LEBEN UND ZU STERBEN, MEINE LIEBE UND DOCH DAS SCHREKLICHE ENTBEHREN. - UND ÜBER DER ZUKUNFT DIE VOLLE REINE WAHRHEIT HAUCHTE, WEINTE, SPRACH AUS MIR, UND ER, WAR WIRKLICH GERÜHRT UND SEIN MUND SPRACH LIEBE AUS UND STELLTE DIE UMSTÄNDE DEUTLICH DAR, UND DARNACH FREILICH DIE MÖGLICHKEIT; UNS ZU SEHEN UND ZU GENIESSEN, VERSCHWAND. MEINE SCHEIDUNG HIELT ER FÜR UNMÖGLICH. KÖNTE ER AUCH JEZT VON BERLIN WEG SEIN, SO KÖNNE ER JA DOCH NICHT MIT MIR HIER SEIN - UND DAS ICH SO TROSTLOS UND LEIDEND WÄRE, KRÄNKE IHN DARUM, WEIL ER DENN MÜSSE BEREUEN, DAS WIR UNS LIEB GEWONNEN HÄTTEN. DOCH ER UND SEINE LIEBE BLEIBT MIR UND SEINE HERZLICHE MILDE, SEIN ZUREDEN UND SEIN VERSPRECHEN, MORGEN WIEDER MICH IN L[UISIUM] ZU BESUCHEN, UND DAS ER MEIN SEI, MIT ERNSTER EHRLICHKEIT UND HEISSER UMARMUNG MIR VERSICHERT." - 22. Juli: "[…] Und so erschien H[IRT]. ER WAR MUNTERER UND LIEBEND WIE SONST, man ging in dem Zimmer umhier, sprach viel UND WEGEN DER RITZ IHRE RECHTFERTIGUNG WIE DIE WIRKLICH GUT SEI, UND WAS BRISTOL IHN FÜR EINE FRAGE GETHAN [Vorschlag einer gemeinsamen Reise nach Ägypten]. - UND WIE ER MIR DEN RATH GIBT, NUR SUCHEN MICH FREI ZU MACHEN DAS ICH UNABHÄNGICH WÜRDE denn zumal ER UND ICH WÄREN VERBUNDEN, UND WENN ICH IRGENDWO DANN IHN MEHR SEHEN ER ÖFTERS BEI MIR SEIN KÖNTE ODER ER GAR DORT ANGEHEN KÖNTE, UM MEINETWILLEN SO WÜRDE ER ES THUN, DENN ER WÜRDE NIE MIR UNTREU WERDEN, ER SEI SO GANZ SO GERN MEIN. UND ERNEUERTE DIE VERBINDUNG, WAS ICH WIRKLICH SANFT ABWENDEN WOLTE, ABER ES DOCH NICHT VERMOGTE." - 24. Juli: "[…] ACH! GOTT RICHTE DU MICH AUF. ICH VERSINKE SONST, ICH WEIS MIR NICHT ZU HELFEN. ÜBER ALLES LIEBE ICH IHN, BIN NUR EINZIG GLÜCKLICH DURCH IHN, SOLL IHN ABER AUF IMMER ENTBEHREN. WIR SOLLEN TOD FÜR EINANDER SEIN!" - 4. August: "[…] DENN DAS WAR NUN DER LEZTE TAG DIESER EPOCHE, FÜR MICH SO ENTSCHEIDENT. ICH BIN UND BLEIBE SEIN WIEN. - ER SELBST ERKENNT UNSER SCHIKSAL UNZERTRENNTLICH VERBUNDEN UND LIEBT MICH ÜBER ALLES DOCH IMMER MIT KLUGHEIT UND WÜRDE. ALSO VERGÖNT UNSERE LAGE SELTEN GENNUS UND MIR LAUTER ENTBEHRUNGEN" (Tagebücher LvAD, Bd. 1, S. 308-312). - Das nächste Mal kommt Hirt im Mai 1799 nach Wörlitz. - Die Briefe, die Hirt an die Fürstin schrieb, sind nicht erhalten geblieben. Am 11. September 1798 vermerkt sie in ihrem Tagebuch: "dann verb[ran]dt ich stille die lieben BRIEFE VON H[IRT] UND VON M[ATTHISSON], weil sie's so gewünscht" (ebd., S. 347). [Die in Versalien wiedergegebenen Passagen wurden von der Herzogin in einer Art Geheimschrift verfasst.]
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in Deßau
zubringen: in den ersten Tagen von August bin ich wieder in Berlin. | 3 Weimar hat manches, was mich intereßirt; aber keine sich schlängelnde Sala - keine jenaischen Hügel, kein Bekannt vor allem durch die drei Dornburger Schlösser auf den Kalksteinfelsen des Saaletals, etwa 10 Kilometer von Jena entfernt. Dornburg gehörte zum Herzogtum Sachsen-Weimar und Eisenach.
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Dornburg
, keine - Wohl Anspielung auf die 1785 in Jena gegründete und von Christian Gottfried Schütz mitherausgegebene "Allgemeine Literatur-Zeitung". Im Haus der Familie Schütz, Engelplatz 8, dem Mittelpunkt des geselligen Lebens in Jena, befand sich die Redaktionskonferenz der Zeitung.
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Litteratur-Frau
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Empfangen Sie meinen Dank: und wollen Sie mich auch in der Ferne gastfreundlich behandeln, so laßen Sie mich dann u. wann wißen, daß Sie nie ganz vergeßen wollen

Ihres / dankbarergebnen Hirt.