Rom den 27 ten Dec. 88.

An Herrn Pfarrer Lavater
in Zürch.

Lips versichert mich, daß Sie diese Beylage von einem Unbekannten, der Sie schon so lange in der Ferne verehret, nicht übel aufnehmen würden.

Ich hatte vor kurzem wieder Gelegenheit, die französische Physionomie durchzusehen. Ich bewunderte nicht nur den scharfen Blick, mit dem Sie auf den äußern Lineamenten das Innere der Herzen und Fähigkeiten durchschauen; sondern ich blieb auch mehr als jemals von dem Nutzen dieser Wißenschaft in Rücksicht der Moralität und Kunst überzeugt. Gott! möchte man alle Augenblicke ausrufen: welche Fähigkeiten, welcher Schauspieler für ein so eingeengtes Theater! Warum lebt ein solcher Mann nicht in Rom! warum über der Zeileist nicht er von den Antiken und Raphael umgeben? warum ist das Kunststudium nicht sein einzig geschäft?

Ich kann nicht anders als mit dem Geschick zürnen, wenn Sie nicht nach Rom kommen und wenn Sie | 2 nicht bald kommen. –

Die Menschen mögen sagen, was Sie wollen: Sie sind unserer Nation, ja der ganzen Menschheit eine zwote Auflage Ihrer Physionomie schuldig, – Aber mit bestimmtern Principien, aus einem höhern mehr umfaßenden Gesichtspunkt. Rom, die Antiken und Raphael können sie einzig dazu führen.

Sie sind dazu berufen, das Räthsel zu erforschen, wie die Alten bildeten, in deren Schulen die Physionomik und Karakteristik Wißenschaft, und nicht blos, wie in unsern Schulen, ungefähres Haschen und Tappen war. Bei(?) Unter den Neuern ist nur ein Raphael und Leonardo, die das Gefühl derselben besaßen; aber leider blieb es Gefühl, weil es kein Lavater gab, der dieß innere Anschauen auf Grundsäze zurückführte.

Opfern Sie einmal sechs Monate von Ihren Amtspflichten auf. In wenigen Tagen sind Sie über dem Gotthard bey Leonarda da Vinci in | 3 Mayland; in wenigen Tagen von da in Florenz, und dann in Rom. Hier aber blicken Sie zwey volle Monate nicht sowohl um alles, als die Antiken und Raphael zu sehen. Keine Gesellschaft soll Sie stören, sondern Sie leben blos für Kunstwerke und Künstler: - Die Neugierde benimmt Ihnen dann einen Monat für Neapel; bey der Rückkehr Florenz noch 10 Tage, Bologna 8 Tage, und so Parma und Mayland noch ein paar Tage. Venedig und andere Städte Rechts und Links kann ein Mann wie Sie vermißen. Rom und Florenz sind allein Hauptorte.

Denken Sie die Ärndte nach nicht einmal vollbrachten sechs Monaten; denken Sie die Fülle der Seele dann, - die höhere Sonne, welche über Ihnen leuchten würde, und welches Licht aus ihrem lautern Quell zu verbreiten wäre.

Könnten Sie kommen in der Zeit, Herder blieb bis 14. Mai 1789 in Rom.
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wo Herder noch hier ist
, der wahrscheinlich bey der Herzogin bis künftigen May bleiben wird. Sie giengen im Merz von Zürch ab, reisten dem Frühling entgegen, und wären | 4 gegen Ausgang des nemlichen Monats in unserer Hauptstadt. –

Sehen Sie hier meine lautern heißen Wünsche, und gewiß aller derer, die Ihren Werth, und den Nutzen einer solchen Reise für Lavaters Geist zu beurtheilen im Stande sind.

Es scheint mir oft, wenn ich es sagen darf, daß Sie durch diese Reise den eigentlichsten Beruf Ihrer Bestimmung hienieden erfüllen würden. Gott fodert Rechenschaft von dem eigensten Talent, das er dem Mensch gegeben hat. –

Vergeben Sie soviel Zudringlichkeit einem jungen Ihnen unbekannten Forscher des Guten und Schönen, der beyde in dem Wahren suchet, und in Wahrheit ist

Ihr ergebenster Verehrer Aloys Hirt –