Raphael's Madonna di S. Sisto, in der Dresdner Sammlung.
In dem artistischen Notizenblatt, Nr. 5, März 1826, wurde ich aufgefordert - was auch schon in einem frühern Blatte geschehen sein soll - die Gründe meines Zweifels über die Aechtheit der Madonna die S. Sisto von Raphael kund zu thun.
Man gründet einen solchen Zweifel von meiner Seite auf die Aussage des Grafen Lepel in einer Schrift, die ich nicht
kenne. Es scheint mir in derselben von Timoteo della Vite die Rede zu seyn, der
vielleicht Antheil an der Madonna von San Sisto gehabt haben soll. Es
mag aber nicht überflüssig seyn, zu erwähnen, daß ich Gemeint ist wohl seit dem Jahr 1783.
[Schließen]seit 83 Jahren den Grafen Lepel weder sah, noch sprach, und daß ich das Dresdner Gemälde
erst seit 80 Jahren kenne. Doch alles wunderliche Gerede, welches Unkundige so
leicht verbreiten, bei Seite gesetzt, erkläre ich ein für allemal:
"Daß ich über die Raphaelische Originalität der Madonna die S. Sisto in Dresden nie einen Zweifel hatte."
Außer der Autorität des Vasari spricht das Gemählde den Namen des großen Meisters hinreichend über den Zweifel, den man wegen des Wortes tavola im Texte des Vasari - da nämlich das Gemälde nicht in tavola, sondern in tela gemalt ist - erheben könnte, verdient kaum einer Bemerkung, da das Wort tavola im weitern Sinne von jedem Gemälde gilt.
Eine andere Frage ist es: ob Raphael das Gemälde ganz und allein mit eigener Hand fertigte? - oder ob er einen Gehülfen dabei hatte? und in dem leztern Falle: welchen?
Was die erste Frage betrifft, so ist es nicht bekannt, daß Raphael, ehe er nach Rom gerufen ward, irgend einen Schüler hatte, wohl aber Freunde, die sich bei ihren Arbeiten gegenseitig beriethen und beistanden. So beendigte Ridolfo Grillandai ein Gemälde (eine Madonna auf dem Throne mit Heiligen und Engeln vorstellend, das jetzt im Pitti zu Florenz hängt), welches Raphael, als er nach Rom ging, unvollendet zurück ließ; und so übernahm Raphael die Vollendung von zwei Figuren, des Petrus und Paulus, welche früher sein Freund, Fra Bartolomeo allda angefangen hatte.
Aber in Rom sammelte sich bald eine bedeutende Schaar um den jungen Meister, die später immer mehr zunahm; und bekannt ist es, daß er diese ihm Ergebenen vielfältig bei seinen Arbeiten benutzte. Wie hätte auch sonst der Meister die Unzahl von Bestellungen fördern können? - Doch sind diese Dinge keinem zweifelhaft, der nur einigermaßen jener schönen Zeitumstände kundig ist."
Indessen galt billig jedes Gemälde, das aus der Werkstatt Raphaels hervorging, als eine Arbeit des Meisters. Er gab die Erfindung und die Skizze, und das weitere wurde unter seinen Augen und Vorsteherschaft gemacht. Er bestimmte die Cartone, belebte den Ausdruck, bezeichnete das Colorit, den Effekt, die Harmonie, und wo es mangelte, bestimmte er das Nähere durch seine Pinselstriche, so daß kein Staffeleigemälde aus seiner Werkstatt kam, dem er nicht mit eigner Hand die Seele, und jene Harmonie einhauchte, die kein Schüler, sondern nur der überlegene Genius des Meisters geben konnte. So war im wesentlichen der Gang, wie die Werke Rhaphaels in seinen Arbeitstuben gefertigt wurden.
Nun zeigt das ganze Großartige in der Madonna von S. Sisto (ohne uns jetzt in
andere chronologische Untersuchungen über das Gemälde einzulassen), daß die
Tafel in die letzte Epoche Raphaels Mit Fußnote: Das Gemälde unterscheidet sich
hauptsächlich in zwei Dingen: in der Composition, und in dem Charakter
der Madonna. Raphael war nämlich einer der erstern, der bei
Altergemälden die alterthümliche Darstellung, die Maria mit dem Kinde
auf den Thron zu setzen, und die Schutzheiligen daneben aufzustellen, in
eine beweglichere mehr poetische und dem Geist der Mahlerei günstigere
Darstellungsweise umänderte. Das Erscheinen der Maria mit dem Kinde, und
zugleich mit den Schutzheiligen in den ätherischen Regionen, umflossen
von einem Glanzlichte, steigerte die Farbenwirkung, und das Schweben der
Figuren gab Leichtigkeit, mannigfaltigere Stellungen, und einen
beseeltern, mehr himmlichen, Ausdruck. In Rücksicht des Charakters der
Madonna bemerkt man, daß alle frühere Marienbilder Raphaels sich durch
Anmuth und Jungfräulichkeit auszeichnen; ihre Formen, und ihr Ausdruck
nähern sich mehr der Natur und dem Irdischen. In der Madonna von Foligno
herrscht zuerst das Ideal des Schönen vor. Aber dieß genügte dem großen
Meister nicht. In der Madonna di S. Sisto strebte er die Idee des
Erhabenen in der Himmelskönigin zu erschöpfen, und so unterscheidet sie
sich von allen frühern des Meisters.
[Schließen]gehört, und also aus jener Zeit ist, wo dem Meister nur wenige Zeit übrig blieb,
den Pinsel bei seinen Schöpfungen selbst zu führen. Nur die Portraits mochten
eine Ausnahme hievon machen, obwohl auch hier das Nebenwerk dem Gehülfen
überlassen ward.
Es kann also keinen Aufmerksamen befremden, wenn die Raphaelischen Gemälde, die acht bis zehn Jahre vor seinem Tode gemacht sind, so bedeutend von einander abweichen; zwar nicht so viel in der Zeichnung - obwohl auch diese, besonders in den Frescoarbeiten, wo der Meister nicht überall gegenwärtig seyn konnte, nicht immer die Raphaelische Strenge verräth - als in der Farbengebung, und hauptsächlich in Hinsicht des Tones. Der große Meister vermag zwar auch hierin viel über die Schüler. Die Palette, der Auftrag, und die Farbenbehandlung läßt sich auch bis zu einem gewissen Grade lehren; nur das Auge, und das individuelle Gefühl für Ton und Farbe läßt sich nicht meistern. Es finden sich zwar Anklänge von Farbengebung unter den Individuen einer und derselben Schule, aber Geist und Ton unterscheiden sich immer. Wem die Kenntniß der venizianischen Meister, oder die der Schule von Correggio geläufig ist, mag mich verstehen.
Ich wiederhole also, daß Raphael bei seinem mächtigen Geiste allerdings viel über das Talent seiner Gehülfen vermochte; nur das Gefühl für den Ton in der Farbe konnte er nicht zugeben. Und hier entsteht die Abweichung unter den Raphaelischen Werken aus der spätern Zeit, wo er selbst in dem Zenith seiner Kunst stand.
In seinen frühern Werken, die man gewöhnlich zu seiner ersten und zweiten Manier zählt, findet eine solche Abweichung in der Farbengebung und in dem Tone nicht statt; selbst in den frühern Frescoarbeiten, wie in dem Saale der vaticanischen Stanzen, wo die vier Wissenschaften dargestellt sind, verräth sich derselbe Ton. Erst in den Gemälden, die man zu seiner dritten Manier rechnet, tritt jene Verschiedenheit ein.
Um einiges zu nennen, vergleiche man zum Beispiel die Krönung der Maria, unten mit den Aposteln am Grabe, die Madonna von Foligno, und die Transfiguration - jetzt alle in der Vaticanischen Sammlung - dann die Cäcilia in Bologna, und die Madonna die S. Sisto in Dresden mit einander; so fühlt sich die Abweichung in der Farbenbehandlung leicht.
Die Krönung, ganz von der Hand des Meisters gemalt, zeigt noch jenen reinen Ton, wodurch sich auch die Grablegung in Borghese, und der Christus bei Fesch und andere Bilder früherer Zeit auszeichnen. An der Cäcilia, obwohl großartiger in der Zeichnung als beide letztgenannten, fehlt schon jenes Einfache, und Reinfarbige, jene sorgsam gebrochenen Töne, welche, mit weniger Anspruch auf Effekt eine so stille und gemüthliche Färbung an sich tragen. In der Cäcilia - wenn es zu sagen erlaubt ist - steht, die Farbe weniger gebrochen, gleichsam schwerer und einthöniger, und fast mit einer unharmonischen Härte da. Der Auftrag ist eher mager als markig und fett, zwar nicht in das Graue und Kalte, sondern eher in's Wärmliche und Röthlichgelbe spielend.
Bei der Madonna in Foligno läßt sich fast die Verschiedenheit der Hände fühlen. Lebendiger und kräftiger ist der Portraitkopf des Donators. Weniger aber will sich der dunkler gehaltene Farbenton des Engels in der Mitte mit der graulichen Färbung der andern Figuren vertragen; und noch härter schneidet sich die Madonna in der obern Region ab: Der Kopf der Maria selbst gehört zu den schönen des Meisters, aber das Gewand und die Gloria haben weder die Farbenbrechung, noch den Geist, noch die Harmonie der frühern Raphaelischen Arbeiten. Außer dem Giulio scheint auch Bagnocavallo die Hand dabei im Spiel gehabt zu haben. -
Wer mag sein Urtheil über die Transfiguration kund zu thun? - Der Andreas von der Hand des Meisters trift plastisch aus der Tafel hervor; weniger entwickelt sich die Gruppe der andern Apostel, obwohl der Meister auch hier theilweise zu Hülfe kam. In der Gruppe des Kranken - das vordere Mädchen nicht ausgenommen - thut sich die Hand des Giulio auf mehr als eine Weise kund, so wohl in der gemeinsamen Zeichnung, als in dem trocknen Gegensatz der hintern, in den Schatten gestellten Figuren, gegen die vordern. - Mäßig wirkt der Lichtglanz, der die Jünger auf dem Berge blendet, obwohl fast zu warm gegen das Silberlicht, in welchem die Gestalt des Erlösers zwischen den graubläulichen Nebenfiguren sich verklärt. Indessen bewährt sich in dieser obern Region die Hand des Meisters vorzüglich. Welcher von der Schule hätte solches vermocht? -
In Rücksicht der Madonna di S. Sisto wende ich mich an den Kenner, wenn ich behaupte, daß dieses Gemälde mit der Transfiguration zu gleicher Zeit auf der Staffelei stand, das ist, beide zugleich gemalt wurden. Aber so wie der Meister die Transfiguration hauptsächlich dem Giulio zutraute; so die Madonna dem andern Lieblingsschüler, dem Francesco Penni.
Der erstere war kühn und kräftig in den Formen, wie in der Farbe, beides selbst
über Mit Fußnote: Die Dresdner Sammlung enthält drei
Gemälde, welche man dem Giulio zuschreibt. Hingen diese Gemälde
beisammen, so würde das unkundigste Auge sich auf den ersten Anblick
überzeugen, daß sie nicht von demselben Meister seyn können. Kaum wage
ich es, ihm eines davon anzueignen, nämlich die heilige Familie, die
unter dem Namen Maria mit der Wanne bekannt ist. Die andern zwei gehören
der venezianischen Schule an, nämlich der barfüßige Marsiyas, der der
schönen Olympus unterrichtet (nach der mehrmals vorhandenen antiken
Gruppe) von dem Großmeister Giorgione, und das andere, den Kampf
Simson's vorstellend, von Paris Bordone. Wollte man das Colorit des
Giulio nach den beiden letztern Gemälden beurtheilen; so würde er in
Rücksicht der Farbe allerdings in einem ganz andern Lichte erscheinen,
als seine wahren Gemälde ihn darthun. - Vielleicht über die beiden
letztern Bilder zu einer andern Zeit ein Mehreres. H.
[Schließen]das Maß; der zweite gleichfalls tüchtig in der Zeichnung, war kälteren Gefühls in
der Farbengebung, aber in dieser Kälte milder und anmuthiger. Man vergleiche
ihre Arbeiten in dem Saal Constantin's nach dem Tode des Meisters: die Anrede
und die Schlacht von Giulio, und die Schenkung von Fattore; aber das Gemälde von
Monteluci in Perugia - jetzt im Vatican - woran Giulio den obern Theil, die
Krönung der Maria, und Fattore den untern, die Apostel um das Grab, gemalt hat -
und man wird verstehen, was ich von dem Unterschiede des malerischen Charakters
der beiden Meister sagen will. Hiernach wird es keinen Kundigen befremden, wenn
ich behaupte, daß Raphael die Arbeit der Madonna di S. Sisto dem Fattore
vertraute. Die Zeichnung, wie vortrefflich, aber mehr gemäßigt als kühn. Der Ton
ist graubläulich und kalt; selbst in dem Fleische und in der Gewandung. Die
Glorie ein verwässerter Silberton. Nur der Kranz der Cherubine ist kräftiger,
und der Kopf der Mutter und das Kind von bestimmtern Lokalton. Man fühlt, daß
hier Raphael die letzte Hand anlegte.
Noch fügen wir bei: daß derjenige, der glauben möchte, daß Timoteo della Vite bei der Madonna di S. Sisto die Hand im Spiel gehabt habe, sicherlich ein Irrthum ist. Der treffliche Timoteo war der Gehülfe, als Raphael die Sibyllen in der Kirche Della Pace malte, und befand sich nicht mehr in Rom, als das Gemälde für Piacenza gemalt wurde. Uebrigens ist gegen Farbe des Dresdner Gemäldes nichts so abstechend, als der markige und fette Ton, der in den Originalgemälden des Timoteo herrscht.
Aber dem herrlichen Gemälde thut Noth, daß es bald einen geschickten Restaurator finde. Die Tafel ist mehr schmuzig als beschädigt, und nach einer sorgfältigen Reinigung würde der Pinsel wenig zu bessern finden. Das Alter hat das Gemälde ausgetrocknet, und eine Anfrischung, ein Firniß von geschickter Hand gegeben, würde den Farben wieder Gehalt geben, und dem Ganzen reines Leben einhauchen. Daß dabei das Bild auf eine neue Leinwand gezogen werden müßte, versteht sich.
Den 30. März 1826. Hirt.
[Den Bemerkungen von Hirt fügte Karl August Böttiger folgenden "Zusatz" hinzu:]
Wir können dem Hrn. Hofrath Hirt für die hier mitgetheilten Bemerkungen über
unsere Raphaelische Madonna nur unsere Hochachtung und Dankbarkeit ausdrücken,
da er sein Kennerurtheil mit eben so viel Bestimmtheit als Sachkenntniß
begründet und dadurch ein für allemal eine Menge seltsame Gerüchte und von
Inspector zu Inspector auf unserer Gallerie fortgepflanzten Nachreden, als ob
Hr. HR. Hirt wirklich die Aechtheit dieses Solitärs in unserm Kunstdiademe
verdächtigt hätte, nachdrücklich beseitigt werden. Die Gründe, welche er für die
Mithülfe des Francesco Penni bei der Ausführung des Gemäldes anführt, besonders
seine Bemerkungen über den Farbenton, können bei der sorgfältigsten Vergleichung
mit dem vor uns stehenden Urbild an Beweiskraft nur gewinnen. Hoffentlich werden
sich nun auch ganz unstatthafte um nicht zu sagen, ungereimte Aeußerungen, wie
uns jüngst in einem mit J. unterzeichneten Aufsatze im Weimarischen
Modenjournal, (1826. Nr. 19. vom 7. März) zu Gesicht kam, wo der Verfasser durch
des Grafen Lepel's Urtheil ermuthigt, diese Madonna für ein gar klägliches
Machwerk hält, in welchem die Jungfrau ohne allen wahren Seelenadel nur die
Strenge einer Temperamentstugend zeigt (sic) und auch am Kinde dasselbe (?)
gilt, wenigstens nur im stillen Kämmerlein dem Gleichgesinnten oder dem
schweigsamen Papier anvertraut werden. Denn Jeder muß fühlen und sprechen
können, wie's ihm um's Herz ist, das versteht sich. Aber muß so etwas auch in
den Druck gegeben werden!
Mit wahrem Vergnügen verkündigen wir zugleich die
gewiß in ganz Deutschland und wo man nur an den Schätzen der Dresdner
Gemäldegallerie und ihrer wahrhaft liberalen Zugänglichkeit Theil nimmt, sehr
erfreuliche Botschaft, daß bereits auf Befehl Sr. Maj. des Königs mit dem
berühmtesten und erprüftesten der römischen Restauratoren, Prof. Palmerolli ein
Contract geschlossen worden ist, zu Folge dessen dieser Meister vielleicht schon
im Mai d. J. eine Reise nach Dresden zu machen, die Hauptbilder unserer
Gallerie, die einer ergänzenden, erfrischenden, verjüngenden Hülfe bedürfen, zu
untersuchen, und an die Ergänzung selbst, wo sie am dringendsten scheint, Hand
anzulegen versprochen hat. Nichts, was wirklich zum Zwecke dient, soll dabei
unterlassen oder gespart werden. B.